Hohe Corona-Folgekosten durch Belastung von Kindern und Jugendlichen

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Expertise warnt vor gesamtgesellschaftlichen Kosten psychischer Erkrankungen

Geschlossene Schulen und Sportvereine, Isolation und Einsamkeit: Die zahlreichen psychosozialen Belastungen, denen Kinder und Jugendliche in Deutschland während der COVID-19-Pandemie ausgesetzt waren, haben bei einem Teil der Betroffenen zu emotionalen Störungen oder Verhaltensproblemen bis hin zu psychischen Erkrankungen mit langfristigen Folgen geführt. Für die Gesellschaft bedeutet dies in verschiedenen Bereichen hohe Folgekosten, deren potenzieller Umfang selbst bei konservativer Schätzung im Bereich mehrerer Milliarden Euro pro Jahr liegt.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Expertise, die die Universität Ulm in Kooperation mit dem Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und Jugend erstellt hat. Das Papier ist am Donnerstag, 6. Juli, auf einer Pressekonferenz mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) vorgestellt worden. „Die Expertise zeigt: Jeder Euro, den wir jetzt in die mentale Gesundheit von jungen Menschen investieren, ist gut investiert. Damit tragen wir dazu bei, erhebliche Folgekosten in der Zukunft zu vermeiden und nachfolgende Generationen auch finanziell zu entlasten“, so Paus.

Die Autorinnen und Autoren der Expertise haben berechnet, welche Folgekosten die drei Krankheitsbilder Depression, Angststörung und Essstörung bei Kindern und Jugendlichen auslösen: durch zusätzliche Gesundheitskosten sowie Kosten durch spätere Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Die Basis für diese Analysen bildeten systematische Studienauswertungen zu psychosozialen Belastungen, Kindeswohlgefährdung und Kostenfolgen im Kontext der Pandemie. Die Herausforderung dabei war, dass entsprechende Daten noch nicht oder nicht in ausreichender Menge und Qualität vorliegen. Gleichzeitig sehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dringenden Handlungsbedarf: „Im Sinne einer ausgleichenden Generationengerechtigkeit sollten langanhaltende Belastungen, die durch diese Krankheitsbilder entstehen, möglichst frühzeitig vermieden werden“, so Professor Andreas Jud von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Zwar gebe es bei Prognosen stets Unwägbarkeiten, doch man könne nicht auf präzise Zahlen warten, die erst in 10 oder 20 Jahren vorliegen werden: „Dann ist es zu spät, zu handeln.“  

Die Modellierung zeigt eine Bandbreite mit unterer und oberer Grenze der gesamtgesellschaftlichen Folgekosten:

•    32,3 Millionen Euro Gesundheitskosten Kinder und Jugendlicher bei der Annahme, dass 25 Prozent der zusätzlichen Neuerkrankungen pandemiebedingt in den Jahren 2020 und 2021 aufgetreten sind (100 Prozent der Neuerkrankungen: 129,3 Millionen Euro)

•    161,7 Millionen Euro Gesundheitskosten im Erwachsenenalter pro Jahr bei gleichbleibender Transitionsrate (Anteil derjenigen, die im Erwachsenenalter weiterhin unter dem Krankheitsbild aus der Kindheit/Jugend leiden) wie vor der Pandemie (30 Prozent höhere Transitionsrate: 328 Millionen Euro)

•    2,1 bis 4,1 Milliarden Euro Kosten durch Arbeitsunfähigkeit im Erwachsenenalter pro Jahr durch den Ausfall an Bruttowertschöpfung

•    553,1 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro Kosten durch Arbeitslosigkeit im Erwachsenenalter aufgrund der drei ausgewählten psychischen Krankheitsbilder


Die Gesundheitskosten berechnet hat Professorin Eva-Maria Wild vom HCHE. „Wir haben das vorhandene Datenmaterial nach wissenschaftlichen Standards bestmöglich genutzt, um Schätzwerte zu den Gesamtkosten zu prognostizieren und damit einen Entwicklungskorridor zu beschreiben“, betont Wild. Die Autorinnen und Autoren der Expertise unterstreichen das Ergebnis, dass in Deutschland eine deutliche Verbesserung der Datenbasis notwendig ist – auch für zukünftige Herausforderungen.  

Die Expertinnen und Experten leiten aus den erwarteten, hohen Folgekosten drei Handlungsansätze ab. Erstens: Infrastrukturen in den Bereichen Gesundheit und Soziales stärken und besser vernetzen, um psychosoziale Probleme zu erkennen. Zweitens: mehr vorsorgende Untersuchungen bei Jugendlichen zur Früherkennung. Drittens: Ausbau der Intervention, also rechtzeitige therapeutische Hilfe zur Verbesserung der psychischen Gesundheit. In ihrem Fazit weisen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außerdem darauf hin, dass die psychosozialen Belastungen in der Pandemie vor allem jene Kinder und Jugendlichen und ihre Familien trafen, die bereits zuvor belastet waren. „Bestehende Ungleichheiten wurden noch verstärkt“, sagt Professor Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Fegert macht sich für die Einführung einer Kindergrundsicherung stark. „Sie kann benachteiligte Familien soweit unterstützen, dass sie überhaupt erst die Ressourcen besitzen, für ihre Kinder bei psychischen Störungen Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

So wurden die Folgekosten berechnet
Die Berechnung der gesamtgesellschaftlichen Folgekosten stützt sich auf verschiedene Datenquellen: Die Gesundheitskosten im Kindes- und Jugendalter wurden auf Basis von Kostendaten DAK-Versicherter geschätzt. Da bislang Daten dazu fehlen, ob und wie sich die Transitionsraten im Kontext der COVID-19-Pandemie verändert haben, wurde für die untere Grenze der Gesundheitskosten im Erwachsenenalter von gleichbleibenden Transitionsraten ausgegangen; diese wurden kombiniert mit den Kostendaten GWQ-Versicherter ab 18 Jahren für die drei ausgewählten Krankheitsbilder. Die Schätzung für die jährlichen pandemiebedingten Kosten durch Arbeitsunfähigkeit im Erwachsenenalter beruhen auf Basis der Transitionsraten und Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Grundlage für die Berechnung der jährlichen Kosten durch Arbeitslosigkeit im Erwachsenenalter waren wiederum die angenommenen Transitionsdaten sowie Daten des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen.


Weitere Informationen:
Professor Andreas Jud, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm, Mail: andreas.jud(at)uniklinik-ulm.de

Professorin Eva-Maria Wild, Hamburg Center for Health Economics, Mail: eva.wild(at)uni-hamburg.de

Text und Medienkontakt: Christine Liebhardt